Interview, upcycling project
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Jürgen – eine Begegnung

Ich habe Jürgen kennengelernt, ohne dass es einen Zusammenhang mit Kleidung gab. Das kam erst später und brachte mich dann endgültig dazu, ihn zu interviewen, in seine Welt einzutauchen und zu lernen. Jürgen tauchte immer wieder einfach in unserem Atelier auf und half mir bei Schreinerarbeiten oder er wollte einfach nur ratschen und einen Tee trinken. Eines Tages kam ich ins Atelier und vor der Tür lag eine große Tasche mit hochwertigster Herrenkleidung – Eine wasserdichte Outdoor Jacke, Hemden und Hosen – mit herzlichen Grüßen von ihm, er möchte mich und meine Idee gerne unterstützen. Welch schöne Geste, ich habe mich sehr gefreut und habe sofort angefangen seine Sachen zu verwerten. Hier sind einige Fotos, die aus seinem Hemd und seiner Jacke entstanden sind.

Nun hatte ich also endlich die Gelegenheit Jürgen zu befragen. Trifft man ihn zum ersten Mal, wird man fast umgehauen von seiner Präsenz und seinen entlarvenden Fragen. Er ist der Typ Mensch, dem man sofort vertraut und der einem das Gefühl gibt, mit ihm zusammen kann man alle seine Probleme lösen. Man möchte ihm gleich seine gesamte Lebensgeschichte erzählen. Woher kommt das? Vielleicht, weil man Jürgen, der 1964 in München geboren wurde und in Sendling aufgewachsen ist, anmerkt, dass er selbst schon einiges erlebt hat, aber für sich einen guten Weg gefunden hat.

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Photo © Jürgen Mattik

Seine Eltern trennten sich, als er 2 Jahre alt war und sein Vater hat den Kontakt zu ihm abgebrochen. Jürgen entwickelte eine rebellische Natur, was er heute nur als Vorteil sieht. Er kann verquer denken, sagt er und ungewöhnliche Lösungen für Probleme finden. Seine Jugend in den 80er Jahren war wild, Drogen spielten eine Rolle. Er hing in den legendären Münchner Clubs ab, im „Round up“, im „Tanzlokal Größenwahn“ in der Klenzestraße oder im „Why not“ in einem Hinterhof in der Briennerstraße.

Mit 22 Jahren machte er dann eine Umschulung zum Schreiner und war als Geselle auf der Walz. Unterwegs hat er Lehmbau gelernt und nach einem halben Jahr blieb er in Andernach hängen: „Hab eine Lady kennengelernt und zack bumm bin ich bei ihr geblieben.“
Als ich nach weiteren wichtigen Stationen in seinem Leben frage, windet er sich, denn so einfach will er es sich nicht machen. Alles was er erlebt habe, habe ihn zu dem gemacht, der er jetzt ist, da will er Erlebnisse nicht nach Wichtigkeit bewerten. „Ich musste mir nie Gedanken machen, ich bin immer von einem zum nächsten gekommen ohne Plan, wenn ich mir Gedanken gemacht habe, hat das meistens nicht funktioniert.“ Ein haptischer Mensch sei er, der nicht viel davon hält, sich zu sehr auf die Kopfarbeit zu konzentrieren.
Seine Tochter kam in sein Leben, als er 36 war. Er hat ein enges Verhältnis zu ihr, auch wenn sie nicht bei ihm aufwächst. Jürgen war 4 Jahre Mit-Gesellschafter im Ruffini, dem im Kollektiv geleiteten Café in Neuhausen. Rückblickend auf all die Jahre sagt er: „Ich habe viel Härte im Leben erfahren, das wurde aber immer wieder durch Glück kompensiert.“
Er hat 12 Jahre TaekwonDo praktiziert und trägt den 2. Dan. Ein Kreuzbandriß, den er sich beim Fußballspielen zugezogen hat, beendete seine aktive Zeit. Über das TaekwonDo lernte er, sich selbst zu lesen. Gefühlszustände drückten sich in der Technik aus und der Weg zur Zen Meditation war gelegt.
Und dann erzählt Jürgen, in einem Nebensatz und nach fast einer halben Stunde Gespräch, etwas, das bei mir Zack Bumm macht: Jürgen meditiert nicht nur so ein bisschen, sondern ist ordinierter Zen Mönch. Er praktiziert Soto Zen und sein Meister ist Philippe Coupey, der wiederum Schüler von Meister Taisen Deshimaru ist. (www.zen-road.org) Am 17.08.2007 hat er seine Ordination erhalten und betont, dass es sich dabei nicht um einen Rang handelt. Vielmehr ist es ein Offiziell Machen vom Ego Weg zurück zu treten. Zen ist, so erklärt Jürgen, sich selbst zu beobachten und mit sich vertraut zu werden. Die Gedanken dürfen kommen und man lässt sie aber wieder ziehen, man konzentriert sich auf den Körper und findet so ins Hier und Jetzt zurück. Zen ist nackt und ohne Chichi. Zen ist Präsenz, was Jürgen durch und durch ausstrahlt. Zen lehrt Intuition und das Zurückkommen zur eigenen mitfühlenden Natur. In hasserfüllten Zeiten wie diesen, sauge ich förmlich jedes Wort dieses Mannes auf, denn sie sind so wohltuend und friedlich und hoffnungsvoll. Dann unterbricht er das Interview, um etwas zu holen, das er mir zeigen möchte. Er holt das Kesa, eine Art textiler Umhang der von Zen Mönchen und Nonnen während der Meditation oder einer Zeremonie getragen wird.

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Es ist ein sehr persönliches Kleidungsstück, da es mit einem Spruch und den Daten seiner Ordination bedruckt ist. Es ist so persönlich, dass ich das wunderschöne schwarzweiße Tusche – Bild und die Schriftzeichen nicht fotografieren darf. Er übersetzt aber die Schriftzeichen für mich: Begierde und Illusion wird zu Weisheit. Die Mönche und Nonnen tragen es auch nie nach aussen hin sichtbar, sondern das Bedruckte weist immer zum Körper hin. Eine Nonne, die zusammen mit ihm ordiniert wurde, hat es für ihn von Hand genäht. Zusammengefaltet steckt das Kesa in einer Origami Tasche und ich bekomme ein klein wenig Gänsehaut, da ich aus Jürgens Hemden viel Origami Schmuck hergestellt habe, ohne vorher davon zu wissen. Wer mehr über das Kesa, dessen Bedeutung und vor allem über das Kesa Nähen erfahren will, kann hier ein interessantes Interview mit einer Zen-Nonne lesen.
Doch was arbeitet Jürgen eigentlich? Nach einer schweren Verletzung an seiner rechten Hand, musste er erstmal 2 Jahre Pause machen. Sein Zen-Weg hat ihn auch zur Strukturellen Integration nach Dr. Ida Rolf gebracht. Diese Heilarbeit am Körper, die Haltungsverbesserung, Atembefreiung und Bewegungsverfeinerung zum Ziel hat, möchte er gerne zu seiner zukünftigen Arbeit machen. Alles ist noch im Aufbau, sobald seine Homepage fertig ist, verlinke ich natürlich. Wer mehr darüber wissen möchte, liest am besten hier weiter.
Ich könnte Jürgen noch stundenlang zuhören und ihm Fragen stellen, doch ich zwinge mich zu meinem Thema zurückzukehren und frage ihn, was das für Kleidung war, die er mir gespendet hat. Er hat klar Schiff gemacht in seinem Kleiderschrank und Ungetragenes aussortiert. Aber eine Kleiderspende bei der klassischen Altkleider Sammlung kam für ihn nicht in Frage, weil er die Textilindustrie in Afrika nicht mit zerstören will. Meine Idee findet er großartig und mutig und deshalb will er mich unterstützen. Selten habe ich ein Kompliment lieber entgegen genommen. „Es gibt keine Handlung, die nicht politisch ist.“ Noch ein letztes Zack Bumm, bevor er sich wieder an die Arbeit macht.

Wer Jürgen persönlich kennenlernen und mit ihm meditieren möchte, der ist herzlich eingeladen bei seiner Meditations-Gruppe mitzumachen. Die Gruppe trifft sich jeden Dienstag um 20.00 Uhr in der Hans-Fischer-Str. 13, München-Westend im Bewohnertreff. Bei Interesse bittet Jürgen um kurze telefonische Voranmeldung unter 0179-59 087 59.

5 Kommentare

  1. Herta Heiler sagt

    Liebe Alexandra,
    Der Bericht über Jürgen geht unglaublich in die Tiefe. Es berührt ohne, dass man Jürgen kennt.
    Großartig.
    Mami

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  2. Wie schön geschrieben. Ich bin komplett zufällig über deinen Blog gestolpert, weil ich selbst gerade einer Bekannten ausführlich von Jürgen erzählt habe und während dem Gespräch nach ihm gegoogelt habe.

    Auch ich hatte das Glück oder das Privileg Jürgen als einen Menschen kennen zu lernen, der unglaublich viel zu geben hat. Ich habe noch niemanden getroffen, der so ein tiefes Verständnis von Körperarbeit hat, für mich war seine strukturelle Integrationsarbeit auch lebensverändernd – im besten Sinne.

    Man kann nur wünschen, dass er es schafft, endlich eine richtige Praxis zu eröffnen, wo er seine Berufung entfalten kann.

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    • Hallo Lucius, vielen Dank für Deinen schönen Kommentar. Dass Jürgen sehr talentiert ist steht außer Frage, drücken wir ihm die Daumen für seine eigene Praxis! Herzliche Grüße, Alex

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